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Ambulant – Stationär

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Pflegegrade, neue Begutachtung und die Erfahrungen aus Sicht des MDS

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Interview mit Dipl.-Pflegewirt Bernhard Fleer, MDS

 

Herr Fleer, vor einem Jahr wurde das neue Begutacht-ungsverfahren eingeführt. Hat sich dies bei der Zahl der Begutachtungsanfragen bemerkbar gemacht?

Ja, ganz eindeutig. Ausgelöst durch die Pflegestärkungsgesetze haben wir einen deutlichen Anstieg der Anträge auf Pflegeleistungen registriert. Das begann schon im 4. Quartal 2016 und hat sich 2017 fortgesetzt. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass das Thema in der Öffentlichkeit breiter diskutiert wird und sich durch die Verbesserung der Leistungen mehr Menschen Chancen auf Unterstützung erhoffen. Die Vielzahl der Anträge ist mittlerweile abgearbeitet. Auf welchem Niveau sich die Zahl der Begutachtungen genau einpendeln wird, bleibt abzuwarten. Die Medizinischen Dienste haben jedoch zusätzliche Stellen geschaffen, um ein erhöhtes Begutachtungsaufkommen zu bewältigen.

Ebenfalls in dieser Betrachtung ist zu lesen, dass die Versicherten sich in den Begutachtungen „besser wahrgenommen fühlen“. Durch welche Module aus dem Begutachtungsinstrument wird dieses Gefühl hauptsächlich vermittelt?

Sicherlich spielen die Module 2 und 3, in denen es um kognitive Fähigkeiten bzw. Verhaltensweisen geht, eine Rolle. Einen weiteren wichtigen Grund sehe ich aber in der anderen Herangehensweise der Gutachterinnen und Gutachter, die jetzt in das Gespräch einsteigen mit der Frage, warum sich ein Versicherter bzw. seine Angehö-rigen entschieden haben, einen Pflegeantrag zu stellen. Ich bin selbst ab und an bei Begutachtungen dabei und habe erlebt, wie bei der Beantwortung dieser Eingangsfrage die zentralen Probleme bereits benannt werden und der Gutachter wichtige Hinweise zum indizierten Pflegegrad erhält. Die Gutachter berichten, dass sie gegenüber dem alten Verfahren mit dem Fokus auf den körperlichen Defiziten dank dem neuen Begutachtungsinstrument nun ein viel umfassenderes Bild der Pflegebedürftigkeit erhalten. Der Fokus liegt mehr auf den vorhandenen Ressourcen. Dabei werden sowohl psychisch-kognitive Faktoren als auch körperliche Beeinträchtigungen berücksichtigt.

Welche Erfahrungen haben Gutachterinnen und Gutachter mit dem Systemwechsel weg von einer defizitorientierten Begutachtung hin zu einer stärker ressourcenorientierten Beurteilung im zurückliegenden Jahr gemacht?

Für Gutachter, die bereits seit den 90er Jahren dabei sind, ist dieser Systemwechsel sicher die größte Umstellung, die sie in ihrer Zeit erlebt haben. Generell sind alle froh über den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und darüber, keine Minuten mehr zählen zu müssen. Sie können die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen eines Menschen durch das neue Begutachtungsinstrument und den stärkeren Blick auf die Ressourcen sehr viel umfassender und differenzierter einschätzen. Dadurch erhalten sie eine bessere Basis, um etwa einen Hilfsmittel- oder Reha-Bedarf feststellen zu können.

Unsere Kunden, die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen, hatten die Erwartung, dass sich dank des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs Prüfer und Pflegekraft künftig auf Augenhöhe begegnen. Wie sieht es damit aus?

Durch den Perspektivwechsel sind die Gutachter viel stärker als früher auf die Angaben des Pflegebedürftigen und seines Umfeldes angewiesen. Gerade die Bewertung in den Modulen 2 und 3 ist im Rahmen eines Begutachtungsbesuches ohne die Angaben des Pflegebedürftigen, seiner Angehörigen oder der professionell Pflegenden gar nicht umfassend möglich. Der Gutachter erhebt also einen Befund, braucht aber darüber hinaus die anamnestischen Angaben dieser weiteren Personen, um eine abschließende Bewertung vornehmen zu können. Beide Seiten befinden sich daher sehr wohl in einem Dialog auf Augenhöhe. Und auch nach der Festlegung des Pflegegrads können die Pflegekräfte genau prüfen, ob alle Aspekte in die Bewertung eingeflossen sind und gegebenenfalls nachsteuern, wenn Diskrepanzen entdeckt werden.

Ist denn schon genügend Wissen im Feld, was die Inhalte des Begutachtungsinstruments anbelangt?

Da gibt es meiner Erfahrung nach von Einrichtung zu Einrichtung starke Unterschiede. Sicherlich ist das neue Begutachtungsinstrument nicht dafür geeignet, dass jeder so eben mal mit der Einschätzung loslegen kann. Voraussetzung für die richtige Anwendung ist eine intensive Schulung, und da haben sich viele Einrichtungen sehr gut vorbereitet, auch was das Pflegegradmanagement betrifft. Zu einigen Aspekten aus Modul 3 und zum Umgang mit den krankheits- und therapiebedingten Anforderungen in Modul 5 gibt es aber durchaus noch Rückfragen seitens der Fachkräfte.

In der Betrachtung „100 Tage Neue Pflegebegutachtung“ berichtete Ihr Haus, dass über 40.000 begutachtete Personen im Zeitraum von 100 Tagen einen PG 1 erhielten. Beim PG 2 waren es ca. 10.000 Personen mehr. Setzte sich dieser Trend im restlichen Jahr 2017 fort?

Ja, ganz eindeutig. Ausgelöst durch die Pflegestärkungsgesetze haben wir einen deutlichen Anstieg der Anträge auf Pflegeleistungen registriert. Das begann schon im 4. Quartal 2016 und hat sich 2017 fortgesetzt. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass das Thema in der Öffentlichkeit breiter diskutiert wird und sich durch die Verbesserung der Leistungen mehr Menschen Chancen auf Unterstützung erhoffen. Die Vielzahl der Anträge ist mittlerweile abgearbeitet. Auf welchem Niveau sich die Zahl der Begutachtungen genau einpendeln wird, bleibt abzuwarten. Die Medizinischen Dienste haben jedoch zusätzliche Stellen geschaffen, um ein erhöhtes Begutachtungsaufkommen zu bewältigen.

Werden die Versicherten mit rein körperlichen Einschränkungen nun benachteiligt?

Aus meiner Sicht ist das neue Begutachtungsinstrument ein deutlicher Fortschritt, denn die Auswirkungen von psychisch-kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen werden jetzt gleichermaßen berücksichtigt. Im alten System flossen ja psychisch-kognitive Defizite nur ein, wenn sie sich auf die Verrichtungen auswirkten, wenn also zum Beispiel ein Pflegebedürftiger während des Waschens immer wieder aus dem Badezimmer lief und die für die Körperpflege benötigte Zeit sich dadurch verlängerte. Das nächtliche Beruhigen bei Unruhe ohne Auswirkung auf eine Verrichtung hatte keinen Einfluss auf die Pflegestufe. Hier haben wir einen deutlichen Fortschritt erreicht. Um sicherzustellen, dass keine Gruppen benachteiligt werden und das neue Instrument einheitlich angewandt wird, pflegen wir seit seiner Einführung einen engen Austausch mit Gutachtern und MDK. Wir beobachten, welche Rückfragen kommen und können dann Sachverhalte präzisieren oder Richtlinien anpassen. Bislang gab es keine Anhaltspunkte für Benachteiligungen.

Ist also Ihrer Meinung nach das neue Begutachtungsinstrument in Summe gerechter als das Einstufungssystem früherer Zeiten?

Ja, aus meiner Sicht ist das neue Verfahren gerechter als früher. Ein Beispiel, das ich bei meinen Schulungen für MDK-Gutachter häufig erwähnt habe, macht das deutlich. Ein Mensch mit einer frontotemporalen Demenz im Anfangsstadium hat einen geringen verrichtungsbezogenen Hilfebedarf, benötigt aber umso mehr Unterstützung im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen wie nächtliche Unruhe, Weglauftendenzen oder abwehrenden Verhaltensweisen gegenüber dem Partner. Im alten System gab es dafür zwar Leistungen aufgrund der eingeschränkten Alltagskompetenz, aber es hat sich nicht auf die Pflegestufe ausgewirkt. Mit dem jetzigen System fließen grundsätzlich alle Aspekte in die Bewertung ein. Wir haben sozusagen ein Verfahren aus einem Guss. Das wird aus meiner Sicht den Pflegebedürftigen mit den verschiedensten Einschränkungen in gleicher Weise gerecht.

Unsere Kunden, die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen, hatten die Erwartung, dass sich dank des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs Prüfer und Pflegekraft künftig auf Augenhöhe begegnen. Wie sieht es damit aus?

Für Angehörige wiederum ist es wichtig, sich auf eine Begutachtung vorzubereiten, damit sie dem Gutachter beispielsweise genau berichten können, wie häufig sie nachts aufstehen und den Pflegebedürftigen beruhigen oder zur Toilette begleiten müssen. Nicht für zielführend halte ich Pflegetagebücher, die erwarten, dass Angehörige das tun, was eigentlich Aufgabe des Gutachters ist, nämlich die Einschätzung der Selbständigkeit nach den Kriterien des Begutachtungsinstruments vorzunehmen. Nützlicher ist eher eine genaue Beschreibung der Aufgaben, die sie im Rahmen der Pflege täglich übernehmen und die Beantwortung der Frage, was der pflegebedürftige Mensch noch alleine kann und was er nicht mehr kann.

Gibt es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen dem neuen Begutachtungsinstrumentund dem Fachkräftemangel?

Sicherlich braucht es die Fachkräfte für die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in der Praxis. Dieser betrifft ja nicht nur die Pflegebegutachtung, sondern beispielsweise auch die Konzepte von Einrichtungen. So fand bis 2016 durch den engen Verrichtungsbezug eine Fokussierung auf körperbezogene Pflege statt. Beratung und Anleitung, die auch zur Pflege gehören, standen weniger im Mittelpunkt. Mit den neuen Anforderungen gewinnt auch die Beratungskompetenz der Fachkräfte wieder mehr Gewicht. So kann es durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wieder zu einer Aufwertung des Pflegeberufs kommen, was sich wiederum auf den Fachkräftemangel auswirken kann. Allerdings gehören dann auch die entsprechenden Rahmenbedingungen dazu. Diese müssen wir ebenfalls in den Blick nehmen!

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Fleer.


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